Eigentlich wollte ich mit meinem Mann das Ende unserer Italienreise letzten Sommer in Meran verbringen. Doch es kam anders. Und so musste der Wunsch in die Südtiroler Hauptstadt zu fahren auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Schade.
Ein paar Wochen später kam ein Anruf von Marie und die Frage, ob ich einen Auftrag übernehmen möchte. Was glaubst du wo? Richtig geraten: in Meran! Ich war sofort Feuer und Flamme. Gibt’s denn das? Mein Wunsch ans Universum wurde wohl doch erhört.
Als sie mir den Termin nannte, kam ich ins Zweifeln – just an meinem Geburtstag. Eigentlich versuche ich mir meinen Geburtstag frei zu halten (es gelingt jedoch nie) und jetzt soll ich sogar allein feiern, weit weg von zu Hause? Also frage ich meinen Mann, ob er mit mir mitfahren möchte und kann. Es geht leider nicht und schon tut sich eine weitere Hürde auf – wie komme ich nach Meran? Selbst so lange mit dem Auto fahren werde ich auf keinen Fall. Die Lösung: Mit dem Zug von Wien nach Innsbruck und danach mit dem Bus nach Meran. Perfekt.
Überraschungen
Im Zug nach Meran werden pausenlos Glückshormone ausgeschüttet. Ich freue mich auf die Stadt, die Südtiroler*innen, das gute Essen und auf Innsbruck, denn dort ist meine Lieblingskonditorei. Während ich mich aus der Bahnhofshalle begebe und noch orientieren muss, wie ich zur Konditorei Munding komme, werde ich von hinten liebevoll umarmt.
Eine ganz liebe Freundin hält mich in den Armen. Ich freue mich riesig, hatte sie doch noch im Zug geschrieben, dass sich ein Treffen wahrscheinlich nicht ausgehen wird. Bei der Konditorei angekommen, blicke ich durchs Fenster und sehe die nächste Überraschung dort sitzen – ihre Tochter. Zu dritt genießen wir das gemeinsame Mittagessen und natürlich die Torten. Und ich bekomme Geburtstagsgeschenke überreicht. Ich bin überwältigt und sprachlos – was selten passiert.
Die Geschenke nehme ich ungeöffnet mit (ich habe ja erst am nächsten Tag Geburtstag) und gehe zur Bushaltestelle, um nach Meran weiterzufahren.
Mit Fremden ins Gespräch kommen
Dort muss ich leider bei brütender Hitze 45 Minuten warten. Der Bus hat Verspätung. Ich suche im Schatten Schutz vor der Sonne, als mich eine sehr freundliche und fröhlich wirkende Frau anspricht. Um uns die Zeit zu vertreiben plaudern wir ein wenig. Sie erzählt mir, dass sie 9 Jahre in Meran gearbeitet und gelebt hat und gibt mir Tipps, was ich unbedingt besichtigen soll.
Der Bus kommt und sie nimmt in der ersten Reihe Platz. Ich habe einen Platz in der vierten Reihe reserviert. Ich sitze gerade mal 3 Minuten als mir der Gedanke kommt, mich zu dieser interessanten Frau zu setzen. Fremde Menschen kennenzulernen finde ich spannend. Und mit einem Gespräch vergeht auch die Fahrt schneller.
Sie fragt, warum ich nach Meran fahre und als sie erfährt, dass ich vom Ministerium für Happiness bin, fängt sie an aus ihrem Leben zu erzählen.
Aktiv Zuhören – eine besondere Lebensgeschichte
Das Gespräch ist weit weg von Belanglosem und ich werde nach dem Aussteigen noch lange an ihre Worten denken. So sehr, dass ich darüber heute sogar diesen Blog schreibe.
Es ist eine sehr berührende Geschichte. Die Frau stammt ursprünglich aus Pakistan. Mit 9 Jahren starb ihr Vater und als ältestes Kind musste sie ihre Geschwister und ihre Mutter verlassen. Die Mutter konnte es sich finanziell nicht leisten so viele Kinder alleine zu erhalten. Der Onkel nahm sie bei sich auf. Aber nicht als Familienmitglied, sondern als Haushaltshilfe. Mit 9 Jahren! Sie sieht ihre Geschwister und ihre Mutter nur mehr 1-2 Mal pro Jahr.
Mit 17 wird sie mit einem unbekannten Mann, der 14 Jahre älter ist, verheiratet. 1 Jahr später kommt das erste Kind zur Welt. 1 Jahr danach das Zweite. Kurz danach wird sie mit Zwillingen schwanger, die beide sterben. Ein weiteres Kind kommt gesund zur Welt. Sie verlassen Pakistan und ziehen nach Deutschland. Sie erkennt, dass sie mit diesem Mann ohne Vertrauen, Wertschätzung und Liebe nicht glücklich ist, verlässt ihn und geht nach Meran. Ich bewundere sie für ihren Mut.
9 Jahre vergehen, bevor sie sich entschließt, zurück nach Deutschland zu gehen, um den Kindern eine bestmögliche Schulbildung zu ermöglichen. Sie trifft ihren Mann wieder. Er möchte, dass sie und die Kinder zu ihm zurückkommen. Er verspricht sich zu ändern. Sie glaubt daran, wird jedoch eines Besseren belehrt. Ihr Mann hat ein Umfeld, das schlechten Einfluss auf ihn ausübt. Er wird ihr gegenüber gewalttätig. Sie nimmt wieder ihren ganzen Mut zusammen und zeigt ihn bei der Polizei an. Er kommt ins Gefängnis. Morddrohungen werden ihr und ihren Kindern gegenüber laut. Schlussendlich überredet ihre Tochter sie, die Anzeige zurückzuziehen. Sie möchte nicht, dass ihr Papa im Gefängnis ist. Er entschuldigt sich auch bei ihr. Aber das Leben mit ihm ist nicht das Leben, dass sie führen möchte – ohne Liebe, Zuneigung und Zeit für- und miteinander. Ich frage sie, ob sie schon einmal Hilfe in Anspruch genommen hat z.B. eine Familienberatungsstelle, aber sie erklärt mir, dass diese ihr nicht wirklich helfen konnte.
Ich höre sehr aufmerksam zu und denke mir von Zeit zu Zeit, was manche Menschen alles durchmachen müssen, nur weil sie nicht in einem Land wie Österreich geboren wurden. Immer wieder frage ich mich: Was kann ich für diese Frau tun? Ich merke gar nicht, dass ich schon die ganze Zeit etwas für sie mache: ich höre ihr zu, und zwar aktiv. Ich erzähle nicht von mir, ich suche nicht nach Lösungen, sondern bin ganz und gar bei ihr.
Nach 1 ½ Stunden muss sie aussteigen. Sie verabschiedet sich von mir und bedankt sich mit den Worten: „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Es hat so gutgetan, dass ich einmal meine Geschichte jemandem erzählen konnte.“ Ich umarme sie herzlich und wünsche ihr alles Gute.
Dankbarkeit
Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich kann meine Gefühle gar nicht zuordnen. Unglaublich, was diese Frau alles erlebt und über sich ergehen hat lassen müssen. Traurigkeit überkommt mich gefolgt von aufrichtiger Dankbarkeit. Dankbar, dass ich in einem Land geboren wurde, wo Frauen Männern nicht unterstellt sind. Dankbar, dass ich Menschen um mich habe, an die ich mich jederzeit wenden kann. Und dankbar für die liebevolle Beziehung zu meinem Mann.
Ich erreiche Meran und bin wieder zurück in meinem glücklichen Leben. Das Hotel ist hervorragend und ich lerne Südtirol von seiner besten Seite kennen. Die Auftraggeberinnen warten schon auf mich. Ich besichtige die Räumlichkeiten für den Vortrag vor über 200 Menschen und wir testen die Technik. Alles ist bereit für den morgigen Tag.
Ich gehe zurück auf mein Zimmer und gehe den Vortrag noch einmal durch, bevor ich mich für einen Abendspaziergang mit anschließendem Essen entschließe. Wow, ist es hier schön. Obwohl ich allein bin, genieße ich alles in vollen Zügen und bin mir voll bewusst, wie gut ich es habe.
Geburtstag
Ich erwache schon sehr früh und öffne meine mitgebrachten Geschenke. Ich habe eine riesige Freude damit. Danach begebe mich auf einen Spaziergang, möchte den Sonnenaufgang beobachten. Geht nur hier in den Bergen nicht wirklich. Zum Frühstück bin ich in das Veranstaltungshotel eingeladen und lerne meine Teilnehmenden kennen. Der Chef der Organisation wünscht mir alles Gute zum Geburtstag.
Dann kommt mein Auftritt. Ich werde vorgestellt und trete auf die Bühne. Ich nehme mir bewusst Zeit, bevor ich mit meinem interaktiven Vortrag beginne. Doch da hatte ich wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn plötzlich singen die Teilnehmenden Happy Birthday. Ich bin überwältigt. Der Vortrag kommt sehr gut an. Die Stimmung ist einfach fantastisch.
Auch die anschließenden Workshops haben eine großartige Wirkung.
Glückselig kehre ich in das Hotelzimmer zurück, um mich für den gemeinsamen abendlichen Ausklang frisch zu machen. Da entdecke ich auf dem Tisch eine Torte und Glückwünsche vom Hotel. Mhh, sehr gut. Dann soll ich noch in den SPA-Bereich kommen. Dort kann ich mir noch etwas aus einem Geschenkekorb aussuchen. Ich wähle das Kochbuch.
Zurück im Zimmer erblicke ich einen riesig großen Blumenstrauß. Es ist keine Karte dabei. Ich frage im Hotel nach, nein, von ihnen ist er nicht. Ich frage bei der Auftraggeberin nach, aber auch von ihr ist er nicht. Es stellt sich heraus, dass er von meinen Kindern organisiert wurde. Da bin ich wieder sprachlos und gerührt. Und endlich verstehe ich auch, was auf dem Billett meiner Kids gestanden ist.
Eine Überraschung folgt der nächsten. Es ist ein Geburtstag der anderen – ganz besonderen Art, den ich nie vergessen werde und für den ich unheimlich dankbar bin.
Das habe ich in Südtirol gelernt
1. Menschen brauchen Menschen, die ihnen aktiv zuhören
2. Fremde Menschen kennen zu lernen, kann dein Leben bereichern
3. Ich bin privilegiert, denn ich bin Österreicherin
4. Egal wo ich bin, gibt es liebe Menschen und meine Lieben denken an mich
5. Mache dir jeden Tag bewusst, wofür du dankbar sein kannst – frei entscheiden zu können,
nicht als Kind Kinderarbeit geleistet haben zu müssen, als Frau dem Mann gleichgestellt zu sein,
in einem sicheren Land zu leben, Freund*innen zu haben, die zu dir stehen, und vieles,
vieles mehr.
Es lohnt sich, jeden Tag drei Dinge aufzuschreiben, für die du dankbar bist. Dinge, von denen du denkst, dass diese eigentlich selbstverständlich sind. An der Geschichte der Frau im Bus erkennst du, dass sie das nicht (für alle Menschen) sind.